Den Eltern von Max Reiss gehörte das Hotel Hietzinger Hof. Er studierte an der technischen Hochschule in Wien.
Ich wurde am 12.6.1919 geboren. Meine Eltern hießen Salomon Reiss (geb. 5.9.1888) und Ida Reiss (nee Spergel, geb. 6.9.1891). Meine Geschwister sind Klara Amalia Werner (nee Reiss, geb. 29.9.1920) und Manfred Reiss (geb. 19.9.1922). Wir wurden alle in Wien geboren und sind ins Chajesgymnasium zur Schule gegangen, welches sich zuerst im 2., danach im 20. Bezirk befand.
Übersiedlung nach Hietzing
Unsere Familie ist ungefähr im Jahr 1933 aus dem 2. Bezirk nach Hietzing übersiedelt. Dort haben wir in dem Hotel Hietzingerhof gewohnt, welches unseren Eltern gehört hat. Wir hatten eine sechszimmer Wohnung die einen halben Stock des Hotels belegt hatte. Der mittlere Hotelgang war sehr breit, de facto ein Saal, von dem die Zimmer nach beiden Seiten abgingen. Die Wohnung war gediegen eingerichtet, es gab ein Klavier und ein Harmonium, ein Speisezimmer und ein Herrenzimmer. Zu dem Hotel gehörte ein Kino, ein Kaffeehaus, ein Tennisplatz und ein großer Garten. Die Familie war fromm. Samstag war Ruhetag und man ging in die Synagoge, meistens in Penzing, denn sie war orthodoxer, manchmal in die Eitelberggasse. Mein Vater war Enterpreneur und Geschäftsmann. Meine Mutter war in der Wizo sehr aktiv und auch sonst in sozialer Hilfe tätig. Zu den jüdischen Feiertagen hatten wir meistens Gäste. Am Jom Kippur (Sühnetag) zogen wir in ein Hotel im 2. Bezirk um nahe an einer Synagoge zu sein.
Da wir alle ins Chajesgymnasium gingen war unser Freundeskreis ziemlich auf die Mitschüler beschränkt. Wir hatten gezählte Freunde und Freundinnen in Hietzing und Hütteldorf. Da unser Bekanntenkreis hauptsächlich jüdisch war haben wir persönlich kaum was vom Antisemitismus gespürt. Wir fühlten uns ganz natürlich als Österreicher, aber auch als Juden. Die Schule war zionistisch, das Nachbarland Deutschland war nationalsozialistisch und antisemitisch, in Österreich hörten wir auch von allen möglichen antisemitischen Vorfällen, doch dachten wir nicht daran etwa nach Palästina auszuwandern. Im Jahre 1937 abiturierte ich mit Auszeichnung.
Technische Hochschule in Wien
Als ich in der Technischen Hochschule Wien inskribierte und im Meldebuch unter Volkszugehörigkeit „Österreicher“ schrieb, sagte mir der Beamte: „Es gibt kein österreichisches Volk, es gibt nur ein deutsches Volk“, worauf ich „Österreicher“ ausstrich und anstatt dessen „Jude“ schrieb. Der sah mich an und sagte: „Das hättens doch net ausstreichen müssen.“ Diese Verhalten war für die Stimmung an der T. H. typisch. Es gab Bemerkungen von Professoren gegen jüdische Studenten, die aus Polen kamen und mangels deutscher Sprachkenntnisse auffielen und auch Konfrontationen zwischen jüdischen und Nazistudenten.
„Anschluss“
Nach dem „Anschluss“ wurden alle jüdischen Studenten ausgeschieden, außer dem letzten Jahrgang. Kurz nach dem „Anschluss“ wurde mein Vater von der Gestapo verhaftet und drei Monate lang festgehalten, bis er zustimmte seinen gesamten Besitz an die N.S.D.P. zu zedieren. Das Kino wurde sofort nach dem von einem Verwalter der N.S.D.P. übernommen. Einige Wochen danach wurde auch das Hotel übernommen. Zwei S.S. Offiziere übergaben uns einen vierundzwanzigstündigen Räumungsbefehl für die Wohnung. Unter deren Aufsicht durften wir jeder einen Koffer mit persönlichen Effekten packen, keine Wertsachen, nicht einmal meine Briefmarkensammlung.
Während der nächsten Monate bemühten wir uns sowenig wie möglich auf der Straße zu sein, denn es gab Razzien und Leute wurden grundlos inhaftiert und auch in Konzentrationslager verschleppt. Ich wurde einmal in einer Aktion erwischt, aber es ging glimpflich ab. Ich wurde in einen jüdischen Klub gebracht und musste auf den Knien Fußböden scheuern. Ende Juni 1938 wurde unser Vater aus der Haft entlassen. Da wir einen Tipp erhielten, dass er auf einer Liste steht von Leuten die ins KZ geschickt werden sollten, flüchtete die ganze Familie illegal mit Hilfe eines Onkels in die Tschechoslowakei, da wir keine Visa für irgend ein Land finden konnten. In der Tschechoslowakei besaß mein Vater Kohlengruben und hoffte von dort aus eine Möglichkeit der Auswanderung zu finden.
Ausreise
Meinen Eltern gelang es in Prag die Ausreise ihrer Kinder zu organisieren. Ich fuhr im September 1938 nach Haifa, Palästina auf Grund einer Einreisebewilligung als Student der T.H. Technion, Haifa. Im Frühling 1939 folgte mir mein Bruder Manfred mit einer Jugendgruppe. Meine Schwester reiste eine Woche vor Kriegsausbruch als Hausgehilfin nach London. Meine Eltern konnten trotz aller Bemühungen keine Einreisebewilligung für irgend ein Land bekommen – so wie Hunderttausende von anderen Juden. Ihr Vermögen in der Tschechoslowakei wurde beschlagnahmt. Sie selbst wurden am 30.1.1942 nach Theresienstadt verschickt und von dort am 18.5.1944 nach Auschwitz.
Ich
Ich studierte von 1938 – 42 am Technion Bauingenieur, es waren zum Teil Hungerjahre. Ich war auch Soldat im israelischen Befreiungskrieg 1948 – 49. 1949 – 56 war ich als Angestellter tätig, später als selbständiger Bauingenieur. Von 1956 – 1984 war ich Hochschullehrer, Professor und Dekan am Technion, Haifa, Visiting Prof. in London, Dortmund, Berkley. Ich habe zwei Söhne und sieben Enkelkinder und ich reise sehr gerne.
Klara Werner, nee Reiss
Sie war während des „Blitzs“ in London. Dank ihrer Begabung gelang es ihr als Modezeichnerin ihr Auskommen während des Krieges zu finden. Sie hat ein Jahr während des 2. Weltkrieges in der englischen Kriegsindustrie gearbeitet. Sie hat zwei Töchter und sieben Enkelkinder, lebt in einer Villa in Devon, malt zu ihrem Vergnügen und reist viel.
Manfred Reiss
Er war bis 1942 in einem Kibbuz und einer landwirtschaftlichen Siedlung tätig. Von 1942 – 45 war er im britischen Militär in der Wüste Ägyptens (Rommel) und bei der Eroberung Italiens. Nach dem Krieg war er eine Zeit lang in einem Kibbuz, später war er Geschäftsmann. Er hat zwei Töchter und sechs Enkelkinder. Nebenbei – alle meine Kinder und fast alle Nichten (habe keine Neffen) haben studiert, z. T. auch MSc, Phol. Im Jahre 1956 waren wir alle drei Geschwister das erste Mal für längere Zeit in Wien und in Tirol. Es war keine leichte Konfrontation, gelindert nur dadurch, dass wir alle zusammen waren. Es gab auch damals einen antisemitischen Zwischenfall in einem Park.
Meine Frau, mein 1 ½jähriger Sohn und ein Wiener verwandtes Ehepaar unterhielten uns leise auf einer Bank. Von einer Nachbarbank kam es: „Die Juden sind ja schon wieder da!“ Auch viele Jahre später fanden wir auf dem Gelände unseres Besitzes in Hietzing, das 1956 verkauft worden war, ein Mahnmal das der Antisemitismus immer noch irgendwo da ist. Ich persönlich betrachte die Menschen nicht als Stereotypen und beurteile sie als Individuen. Ich habe im Laufe der Jahre einige gute österreichische Freunde kennengelernt, war Teilnehmer an wissenschaftlichen Symposien und war oft in Österreich zu Besuch. Dennoch ist es etwas anderes für mich bei einem Besuch in Österreich als irgendwo sonst.
Im Laufe der Jahre habe ich mit meinen Söhnen, einem Enkel und einer Nichte Wien und Österreich besucht. Von unserem Hotel inkl. Wohnung ist nichts mehr vorhanden, das Schulgebäude steht jedoch noch. Mein Bruder war öfters in Österreich, auch seine Töchter und seine Enkelin. Meine Schwester und Familie war nach 1956 nie wieder in Österreich. Sie kann die Shoa und das Schicksal unserer Eltern nicht vergessen. Der Hietzingerhof wurde nach dem Krieg an einen vom Staat eingesetzten Verwalter übergeben. Er war halb zerstört. 1956 wurde er von uns verkauft. Der wahre Wert und der Schaden ist natürlich nie ersetzt worden.