Otto Fleming wuchs in der Wattmanngasse. Seine Eltern wurden in Ausschwitz ermordet. Er selbst floh nach Palästina.
Ich wurde am 25. August 1914 in Wien geboren, gerade als die Zeitungsbuben schrien: „Lemberg noch in unserem Besitz“. Das war eine große Überraschung, da niemand wusste, dass die Russen schon Lemberg erreicht hatten.
Mein Vater wurde in Dürrmaul, einem Dorf in der Nähe von Marienbad geboren, wo seine Familie zumindest seit dem 17. Jahrhundert ansässig war. Mein Vater war sehr intelligent, musste aber die Schule verlassen, als er 14 Jahre alt war.
Er war einer von 8 Kindern und mein Großvater konnte es sich nicht leisten, ihn studieren zu lassen. Mein Vater war auch ein sehr guter Sänger; als der Abt des Stiftes Tepel davon erfuhr, wollte er ihn ausbilden lassen, aber mein Großvater stimmte nicht zu, da er, wahrscheinlich mit Recht, vermutete, dass der Abt den jungen Burschen taufen wollte. So ging mein Vater in Gelsenkirchen in die Lehre und arbeitete in Deutschland bis zu seiner Heirat in Wien. Mein Vater war ein besonderer Mensch. Er opferte sich für seine Familie auf, war sehr bescheiden, vollkommen ehrlich und besaß einen gesunden Menschenverstand. Sein Rat war von Vielen geschätzt. Er war sehr wohltätig; er trug einen durchgewetzten Überzieher, aber war zugleich sehr freigiebig zu Wohltätigkeitsorganisationen, als auch zu Leuten in Schwierigkeiten und Bettlern. Oftmals brachte er einen armen Mann, den er im Tempel getroffen hatte, nach Hause und ließ ihn unser Mittagessen teilen.
Meine Mutter war eine gebürtige Wienerin; ihre Eltern stammten auch aus Böhmen. Soviel ich weiß, wurde sie von Nonnen unterrichtet; sie sprach auch etwas französisch. Leider war sie kränklich; ihr Zustand verschlimmerte sich allmählich und in den 30er Jahren konnte sie nicht mehr ausgehen. Wegen ihrer Unpässlichkeit hatte ich eine Reihe von Kindermädeln und Kinderfräulein.
Übersiedlung
Nach ihrer Hochzeit wohnten meine Eltern in der Dommayergasse, aber übersiedelten kurz nach meiner Geburt in die Wattmanngasse 7/11, wo ich aufwuchs. Das Haus, 1913 gebaut, hat eine imposante Fassade, enthält aber nur 2 und 3-Zimmerwohnungen. Auf der Fassade ist das Relief eines Lammes zur Erinnerung an das Gasthaus „Zum Lamm“, das ehemals an diesem Platz stand! Wir hatten eine 3-Zimmerwohnung im ersten Stock. Das Speisezimmer und das Schlafzimmer meiner Eltern ging auf die Strasse, mein Zimmer auf den Lichthof. Wir hatten auch ein Dienstbotenzimmer, dessen Fenster sich auf den Stiegengang öffnete – heutzutage würde niemand wagen einer Hausgehilfin ein solches Zimmer anzubieten. Im Sommer, wenn alle Fenster offen waren, konnte man oft das Geschrei vom Bezirksgericht in der Trautmannsdorfgasse hören. Zu Beginn hatten wir nur Gaslicht; Elektrizität kam erst in den 20er Jahren, das Telefon viel später. Man kochte auf einem Herd, aber später hatten wir einen Rechaud. Im Badezimmer gab es kein heißes Wasser mit Ausnahme des Gasbadeofens, der das Wasser für das Zinkbad erwärmte. Ich fand unsere Wohnung sehr bequem, obwohl wir im Winter Fensterpölster und Lambrequins brauchten um das Zimmer genug warm zu halten. Im Klosett benützte man natürlich nur geschnittenes Zeitungspapier.
Überraschenderweise enthielt unser Haus zwei Geschäftlokale, die Einzigen in der Wattmanngasse. Eines war ein Zuckerlgeschäft, wo ich, sehr selten, saure Zuckerln kaufte. Das andere Lokal wurde von einem Tapezierer benützt. Wenn er im Lichthof Rosshaar von Matratzen oder Polstern rupfte, stieg der Staub wie eine Wolke bis zu meinem Fenster auf. Die Gasse war sehr ruhig und praktisch ohne Verkehr; das war aber zu Fronleichnam ganz anders. Zeitig in der Früh marschierte die Feuerwehrkapelle durch und spielten ein Ständchen an ein oder zwei Plätzen, aber immer vor unserem Haus. Einige Stunden später kam die Fronleichnamsprozession, die wir immer von unseren Fenstern betrachteten..
Meine Grosseltern mütterlicherseits wohnten in der Wattmanngasse 15. Meine Großmutter litt an Asthma und hatte einen Kropf. Ihr Zimmer war immer von Rauch gefüllt: Sie häufte ein Pulver auf einen Teller und zündete es an. Das Schwelen des Pulvers erzeugte den Rauch, der ihr das Atmen erleichtern sollte. Sie starb verhältnismäßig jung. Mein Großvater wurde in seinen Altersjahren von einem Mann, der von der fahrenden Straßenbahn absprang, niedergestoßen und erlitt einen Schenkelhalsbruch, zufolge dessen er bis zu seinem Lebensende mit zwei Stöcken gehen oder im Rollstuhl fahren musste. Ich besuchte meine Grosseltern oft und in späteren Jahren erwarb ich meine „Aufklärung“ vom Meyers Konversationslexikon, das ich unter ihren Büchern fand.
Mein Vater übernahm das En-Gros Knopfgeschäft seines Schwiegervaters, das unter den Namen E. Goldmann in der Kaiserstraße 5 geführt wurde. Die Spezialität war Perlmutknöpfe. Die Drechsler, die diese Knöpfe erzeugten, arbeiteten in ihren Wohnungen. Oftmals streckte mein Vater ihnen Geld vor, so dass sie die Muscheln kaufen konnte, von denen man Knöpfe machte. Dann kaufte mein Vater ihnen die Knöpfe ab und verkaufte sie z.B. an Hemdfabrikanten. Er verlor oftmals Geld, weil viele seiner Kunden insolvent wurden. Mein Vater kam mir den Drechslern sehr gut aus und sprach Wienerisch mit ihnen. Einmal nahm er mich mit, als er einen Drechsler besuchte, um mir zu zeigen, wie die Knöpfe erzeugt wurden. Manchmal half auch meine Mutter, Knöpfe auf die Musterkarten aufzunähen. Ich fand eine alte Oliver Schreibmaschine im Geschäft, an der ich mich maschinenschreiben lehrte. Ich sah unlängst ein Exemplar dieser Maschine in einem Museum!
Erinnerungen
Meine früheste Kindheitserinnerung (vielleicht 1917) ist meinen Vater in Uniform zu sehen. Er diente in der K.u.K. Artillerie und kam auf Urlaub nach Hause. Die nächste Erinnerung betrifft einen historischen Augenblick von 1918. Mein Kinderfräulein führte mich nach Schönbrunn spazieren; wir wohnten ja ganz nahe. Als wir im Blumenparterre standen, erschien Kaiser Karl mit seinem Gefolge auf dem Balkon des Schlosses, um einen letzten Blick auf den Park und die Gloriette zu werfen, während das Auto im Hof wartete, ihn ins Exil zu führen. Viele Jahre später sah ich seinen Katafalk in einer Kirche in Madeira, wo ich auf Urlaub war. Ich erinnere mich auch an die schlimme Nachkriegszeit, als zufolge der Blockade Lebensmittel, aber auch andere Waren sehr knapp waren. Fleisch war schwer zu finden und es gab Gerüchte, dass Verbrecher Kinder fängen und ihr Fleisch am schwarzen Markt verkaufen. Darum wurde mir verboten, das Haus allein zu verlassen. Damals gab es z.B. Brot, das Sägespäne enthielt; Kaffee war mit Eicheln gestreckt und wir hatten Kunsthonig, den ich dem Naturhonig, den wir endlich wieder bekamen, bevorzugte. Ich erinnere mich auch an Spagat, der aus gewickeltem Papier bestand. (Das ist der Ursprung des Schreiens der Hausierer: „Kein Papier, kein Stroh sondern nur garantiert echte Ware!“) Wenn ein Schuhbandl gerissen war, nähte meine Mutter es kunstvoll zusammen. Sie war eine gute Näherin. Sie konnte auch einen Fleck einsetzen, wenn ich meinen Hosenboden durchgewetzt hatte.
Man sah viele ehemalige Soldaten, die ein Bein oder einen Arm verloren hatten. Es gab viel Armut und viele Menschen mussten betteln gehen. Auch in späteren Jahren legte mein Vater jeden Freitag eine Reihe von Münzen auf den Ladentisch in seinem Geschäft. Während des ganzen Tages sah man eine Prozession von Bettlern, die schweigend in das Geschäft kamen, sich eine Münze nahmen und schweigend hinaus gingen und wahrscheinlich das selbe im nächsten Geschäft wiederholten. Sie gingen von Geschäft zu Geschäft – eine Art unoffizieller Wohlfahrtsorganisation.
Volksschule in Hietzing
Ich besuchte die Volksschule Hietzing am Platz. Dort begann eine lebenslange Freundschaft mit Fritz Prohaska, was ich später erwähnen werde. Der Unterricht in der Volksschule war gut aber altmodisch. Wir lernten mit Schiefertafeln und Griffeln zu schreiben; erst viel später durften wir Hefte benutzen. Jeder hatte seine eigene Schiefertafel, an dessen Holzrahmen ein kleiner Schwamm (zum Abwischen) mit einer Schnur angebunden war. Jedes Jahr zur Osterzeit erzählte der Katechet den katholischen Buben, dass die Juden den Christus ermordet hätten. Das hatte immer die Folge, dass sie versuchten ihre jüdischen Mitschüler zu verhauen, aber diese Animosität dauerte nie lang.
Die jüdischen Kinder von unserer Schule und von anderen Volksschulen in Hietzing wurden an einem Nachmittag (ich glaube es war Donnerstag) in einer Schule in Penzing zusammen gebracht, um dort ihren Religionsunterricht zu erhalten. Meine Mutter gab mit immer ein Gabelfrühstück mit. Als ich es zu essen begann, bemerkte ich, dass einige meiner Mitschüler mich beneideten. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass sie so arm waren, dass sie ohne Frühstück in die Schule kamen. Dann gab ich ihnen gewöhnlich mein Gabelfrühstück; natürlich hat meine Mutter das nie erfahren. Einmal machten wir einen Schulausflug auf die Hohe Wand. Das regte in mir eine Liebe zum Bergsteigen, die ich nie verloren habe.
In meiner Freizeit las ich viel; erst Karl May, dann Fenny Cooper, „Der letzte der Mohikaner“, Little Ford Fountleroy und viele andere Bücher. Ich erinnere mich auch, dass ich oftmals mit einem Schulkameraden, der auch in der Wattmanngasse wohnte, mich mit Bleigießen beschäftigte. Wir benützten alte Zahnpastatuben (die damals aus Blei bestanden) und schmolzen sie in alten Schuhpastadeckeln auf einer Gasflamme und gossen sie ins Wasser.
In späteren Jahren ging ich oft auf den Küniglberg. Die Wattmanngasse führt ja am Schokoladehaus und der Schrattvilla vorbei, auf den Berg. Der war damals noch ganz unverbaut, mit Getreidefeldern auf beiden Seiten des Weges. Nur eine kleine Kapelle stand am Lainzer Ende. Manchmal konnte man einen Hasen sehen (canicula = Hase, daher Küniglberg). Das Beste war aber die wunderschöne Aussicht: Von Hetzendorf zum Lainzer Tiergarten, zum Wienerwald, Kahlenberg und Leopoldsberg. Steinhof war klar sichtbar und man konnte sogar den Stephansdom ausnehmen. In 1934 war ich mit einem Freund oben und wir sahen den Rauch des beschossenen Karl-Marx-Hofes.
Erforschung der Gegenden
Ich liebte immer das Spazierengehen. Alt-Hietzing war mir sehr vertraut. Ich betrachtete die Schaufenster mit großem Interesse, wie in einem Museum. Es gab eine Konditorei in der Maxingstraße, in dessen Fenster ich immer einen Baumkuchen bewunderte. Ich ging auch oft nach Schönbrunn. Später, als ich ein Fahrrad besaß, erweiterte ich meine Exkursionen und erforschte exotische Gegenden, wie Hütteldorf und Hernals.
Ich erinnere mich an unser erstes Radio; es war ein Kristallgerät; man musste mit einer dünnen Drahtspirale einen Kontakt mit dem Kristall suchen, um etwas zu hören. Nur sehr wenige Leute besaßen einen Lautsprecher. Ich benützte einen langen Draht, der meine Kopfhörer mit dem Apparat verband, so dass ich in meinem Zimmer herumgehen und zugleich das Radio hören konnte. Die Ankunft des Telefons war eine Sensation. Der Apparat war an der Wand im Vorzimmer angebracht. Wir hatten ein „Gesellschafttelefon“, d.h. wir teilten es mit einer anderen Familie. Wenn sie es benützten, war eine weiße Scheibe sichtbar; das hieß, dass das Telefon besetzt war.
In der Küche wurde auf einem Herd gekocht. Erst später hatten wir einen Gasrechaud. Es gab auch einen kleinen Eiskasten. Alle zwei Wochen kam der Eismann mit seinem Pferdewagen, in der er lange Eisblöcke transportierte. Er brach ein Stück ab und trug es auf seiner Schulter, auf die er einen Sack legte, in unsere Wohnung. Eine Wäscherin kam einmal im Monat. Die Wäsche wurde in der Waschküche, die im Keller war, gewaschen und dann auf den Dachboden getragen, wo sie zum Trocknen aufgehängt wurde. Zum Bügeln wurde ein Stageleisen verwendet.
Fromme Eltern
Meine Eltern waren fromm, aber unser Haushalt war nicht ganz koscher, weil wir nicht alle Speisegesetze einhielten. Mein Vater schloss sein Geschäft an Samstagen und jüdischen Feiertagen. Wir fasteten natürlich am Jom Kippur und ich ging an den jüdischen Feiertagen nicht in die Schule. Wenn mein Vater einen Laib Brot anschnitt, sagte er immer einen Segensspruch; wenn Mitzi, unsere katholische Köchin, den Laib anschnitt, kratzte sie immer ein Kreuz an die Unterseite.
Ursprünglich gab es in Hietzing keinen Tempel und mein Vater ging in den Tempel in der Turnergasse oder Schmalzhofgasse, wo ich auch meine Barmitzwah feierte. Die Hietzinger Juden mieteten für die hohen Feiertage einen Saal im Gasthof „Weisser Engel“ am Hietzinger Platz, um dort ihren Gottesdienst abzuhalten. Allmählich und mit großen Schwierigkeiten, konnten sie genug Geld sammeln, um den Bau des Tempels in der Eitelbergergasse zu beginnen. Er wurde 1929 eingeweiht. Der Gottesdienst im neuen Tempel war sehr schön; bei den hohen Feiertagen hatten wir einen Männerchor, der, so viel ich weiß, aus Studenten der Musikakademie bestand. Damals trugen viele Herren, auch mein Vater, einen Zylinder zu den hohen Feiertagen.
Am Vorabend des Überschreitungsfestes feierten wir den „Seder“. Das ist ein Gottesdienst im Hause, an dem die Geschichte des Auszugs aus Ägypten erzählt wird. Dann folgt eine formelle Mahlzeit. Während des Festes, das eine Woche dauert; in dieser Zeit isst man kein Brot, sondern nur Matzes. Wir genossen die speziellen Gerichte, die man zu dieser Zeit isst. Mein Großvater kam immer zu uns, um den Seder zu leiten. Nach seinem Tod übernahm mein Vater diese Rolle
Humanistisches Gymnasium
Nach der Volksschule trat ich ins humanistische Gymnasium in der Fichtnergasse ein. Ich war dort sehr glücklich, obwohl ich nur ein Durchschnittsschüler war. Zufälligerweise waren in meiner Klasse von 34 Schülern 7 Juden, während in den anderen Klassen nur ein oder zwei jüdische Schüler waren, oder gar keine. Die Lehrer waren sehr gut, mit zwei Ausnahmen: Der Physik & Chemie Professor, den wir BHZ, das heißt Boshafter Zwerg, nannten. Er war nicht nur boshaft, sondern auch unfähig und hätte niemals angestellt werden sollen. Der andere war unser Religionslehrer, der auch unfähig war. In allen 8 Jahren im Gymnasium fühlte ich nie Antisemitismus. Kurz vor unserer Matura nahm mich der Primus zur Seite. Er sagte, dass wir immer gut ausgekommen wären. Allerdings sei er jetzt in die nationalsozialistische Partei eingetreten. Er hätte gar nichts gegen mich persönlich, aber ich sollte verstehen, dass er von jetzt an nicht mehr mit mir sprechen kann. Ich glaube das war sehr anständig. Ich sah ihn in 1980 wieder, als er an Perkinsonismus litt. Er tat mir sehr leid.
In meiner Freizeit las ich sehr viel. Ich war besonders von dem englischen Philosophen Hobbes beeindruckt. Die meisten Sonntage verbrachte ich mit Freunden im Wienerwald zu wandern. Wenn immer es mir möglich war, ging ich ins Burgtheater, natürlich nur ins Stehparterre, wo das Publikum meistens aus Studenten und Offizieren bestand. Ich wurde ein Mitglied der sozialistischen Mittelschüler und hatte die Aufgabe, Referenten für unsere Zusammenkünfte zu finden. Ich benützte einmal eine Postkarte, um jemanden einzuladen. Nach einigen Wochen kam sie zurück, voll antisemitischer und obszöner Bemerkungen.
Freundschaft mit Fam. Prohaska
Mein wichtigster Einfluss war aber meine Freundschaft mit der Familie Prohaska. Ich ging mit Fritz Prohaska in die Volksschule und wir wurden dicke Freunde. Diese Freundschaft verstärkte sich noch, als wir beiden ins Gymnasium gingen. Ich verbrachte einen guten Teil meiner Freizeit in seinem Haus, Maxingstraße 18. Das Haus gehörte ursprünglich Johann Strauss, der dort die Fledermaus komponierte. Fritzs Grossvater, der Maler Julius Schmid, kaufte es ihm ab, um dort seine Familie unterzubringen. Ich kannte den würdigen, weissbärtigen Herrn, der immer mit einem Spazierstock ging. Julius Schmid, Professor an der Akademie der Bildenden Künste, heiratete eine seiner Studentinnen, ein jüdisches Mädchen namens Schlesinger, deren Tochter Margarete, überall als Putzi bekannt, die Mutter meines Freundes war. Putzi studierte Kunstgeschichte und heiratete den Komponisten und Professor der Musikakademie Carl Prohaska. Gedenktafeln an dem Haus ehren Johann Strauss, sowohl als Julius Schmid und Professor Prohaska. Die große Wohnung, die den ganzen 1. Stock einnahm, war für mich ein Zauberland. Da waren die Rokoko Möbel, die wunderbaren Bilder, Gemälde, Stiche, die große Bibliothek mit ihren Kunstbüchern und Partituren, der herrliche Kristallluster, aber vor allem die zwei Flügel neben anderen Musikinstrumenten. Das Zimmer diente als Hintergrund für Julius Schmids bekanntem Gemälde: Schubert in einem Wiener Bürgerhaus.
Die Familie und die Wohnung waren sowohl künstlerisch als auch unkonventionell. In diesem Rahmen konnte jeder seine eigenen Talente ausüben. Fritz spielte Klavier und Cello, sein älterer Bruder Felix, der spätere Dirigent, spielte Klavier und Bratsche. Der jüngste Bruder, Carl, wurde Flötist in der Staatsoper. Einmal fragten mich Fritz und Felix, ob sie mir etwas vorspielen sollen. Wir einigten uns auf Beethovens 5. Symphonie, die sie mir dann auf zwei Klavieren vorspielten. Es war für mich ein unvergessliches Erlebnis. Das Haupt dieser Künstlerfamilie war Putzi, die, obwohl sie bescheiden und ruhig war, mit innerer Kraft den Haushalt leitete. Sie „adoptierte“ mich und andere Freunde. Ich verdanke einen großen Teil meiner Bildung dieser Familie.
Die klassische Erziehung im Gymnasium regte in mir ein großes Interesse an Italien an, das ich mehrmals in den Ferien besuchte, was mir meine genügsame Lebensart ermöglichte. Diese Sparsamkeit und sorgfältiges Planen machte es uns – 2 jüdischen und 4 katholischen Schulkameraden – möglich, eine Balkanreise zu unternehmen, wo wir ein Zusammentreffen in Athen mit unserem Griechischprofessor organisierten. Meine Jugend war mehr oder weniger sorgenfrei, mit Ausnahme vereinzelter Vorfälle. Z.B. als ich 15 oder 16 Jahre alt war, wanderte ich mit einigen Freunden in der Nähe von Judenburg. Einige Arbeiter von den Stahlwerken bemerkten, dass in unserer Gruppe einige Juden waren. Sie begannen uns zu beschimpfen, warfen Steine auf uns und fingen an uns zu hauen. Wir mussten so schnell als möglich weglaufen. Die Situation verschlechterte sich sehr, als die Nazi Partei in Deutschland mehr Einfluss gewann.
Studium
Nach meiner Matura entschloss ich mich Medizin zu studieren, obwohl ich wusste, dass jüdische Studenten großen Schwierigkeiten ausgesetzt waren. Die antisemitischen Studenten, die die größte Mehrzahl darstellten, griffen die jüdischen Studenten an, verprügelten sie und warfen sie über die Rampe. Ähnliche Unruhen standen auch in anderen Gebäuden, wie z.B. im Anatomischen Institut. Es war so arg, dass ein Student erschlagen wurde. Nichtsdestoweniger erlaubte der Rektor der Polizei nicht, Universitätsgebäude zu betreten. Nur als Bundeskanzler Dollfuss solchen Demonstrationen ausgesetzt war, zwang er den Rektor die Polizei zuzulassen.
Ich begann mein Medizinstudium 1933, in dem ersten Studienjahr, in dem die Polizisten in den Universitätsgebäuden Unruhen vereitelten. Im anatomischen Institut gab es zwei Kanzeln. Die eine war unter der Leitung von Prof. Pernkopf, der ein großer Nazi war und nach dem „Anschluss“ Rektor der Universität wurde; alle Nazi Studenten studierten bei ihm. Die übrigen Studenten, einschließlich der Juden, studierten bei Prof. Julius Tandler (der aber zu meiner Zeit abwesend war und von Prof. Schmeidel vertreten wurde). Auf dem Stiegengang zwischen den Türen, die in die entsprechenden Abteilungen führten, standen immer 2 Polizisten, um Angriffe der Nazistudenten zu verhindern. Der Zoologieprofessor war auch ein Nazi, der manchmal antisemitische Bemerkungen machte; die Nazi Studenten reagierten mit tösendem Trampeln.
Im ersten Studienjahr nutzte ich die Gelegenheit, auch zu nichtmedizinischen Vorträgen, z.B. Alfred Adler, zu gehen. Ich war sowohl mit nicht-jüdischen, als auch mit jüdischen Studenten befreundet. In diesen Jahren erlebte ich mehrmals Zwischenfälle. Wenn eine Gruppe von Nazis mich verhöhnte oder beschimpfte. Das geschah nur, wenn sie in der Mehrheit waren. Nur einmal wurde ich von einer Frau beschimpft, die allein war, während ich mit einem Freund ging. Das war so ungewöhnlich, dass ich mich noch heute daran erinnere. Zu dieser Zeit war es üblich, wenn einige Nazis auf dem Gehsteig nebeneinander gingen und einem Juden begegneten, sie ihn nicht vorbei gegen ließen, sondern ihn in die Gosse stießen.
Ich erinnere mich an die Diskussion, als wir uns fragten, ob wir Österreicher des mosaischen Glaubens oder Juden, die in Österreich leben, waren. Wir kamen zu dem Entschluss, dass wir Österreicher waren, bis man uns das Gegenteil bewies. Im März 1938 war ich im letzten Semester meines Studiums und ich begann mich auf die Endprüfungen vorzubereiten. Der „Anschluss“ brachte mein Studium zu Ende. Kein Medizinstudent in meinem Jahr wurde zu den Endprüfungen zugelassen. 5 Jahre Studium wurden wertlos. Die ganze Einstellung hatte sich geändert: Ich war mit einem nicht-jüdischen Studenten sehr befreundet und besuchte ihn auch in seiner Wohnung. Nach dem 12.März kannte er mich nicht mehr! In den folgenden Wochen und Monaten wurden Juden oftmals auf der Strasse angegriffen oder sogar ins Konzentrationslager geschleppt. Deshalb verließ ich das Haus nur wenn es dringend war.
Es war ganz klar, dass ich meine Heimat verlassen musste. Es war sehr schwer, eine Einreisebewilligung für irgendein Land zu bekommen und bei allen Konsulaten standen lange Schlangen. Manchmal marschierten Gruppen von SA-Leuten vorbei und schleppten einen der Wartenden weg. Es gelang mir, ein Visum für Palästina zu bekommen und ich verließ Österreich im Juli 1938. Ich kam in Palästina völlig mittellos an und musste am Anfang von Wohlfahrtsorganisationen unterstützt werden. Trotzdem verlor ich in den ersten 6 Monaten 18 kg. Ich fand nur gelegentliche Arbeit – Medizinstudent ist ja kein Beruf. Nach einiger Zeit konnte ich als Masseur mein Brot verdienen.
1942 meldete ich mich zum britischen Militär und diente mehr als 4 Jahre, davon 2 Jahre auf einem Lazarettschiff. Nach dem Krieg beendete ich mein Medizinstudium in London (ich musste wieder in der Mitte anfangen). Nach einer Reihe von Spitalsposten, arbeitete ich als praktischer Arzt in Yorkshire und lebe jetzt im Ruhestand in Sheffield. In Wien hatten wir eine Köchin, Mitzi Müller. Wir boten ihr an, mit uns zu essen, aber sie zog vor, allein zu essen. Zur Zeit des „Anschluss“ war sie 15 Jahre bei uns. Ich verließ Wien im Juli 1938 und das folgende habe ich erst von Mitzi und Freunden erfahren.
Die Nazis verbaten unverheirateten arischen Frauen unter demselben Dach als jüdische Männer zu wohnen; so musste Mitzi ausziehen. Da aber meine Mutter kränklich war, kam Mitzi immer wieder zu meinen Eltern, um meiner Mutter zu helfen, sogar wenn sie ihr nicht mehr zahlen konnten. Wir hatten auch eine Bedienerin, die sich nach dem 13. März nicht mehr zeigte! Nach meiner Ausreise zog eine Freundin meiner Eltern, eine Frau Sommer, in unsere Wohnung ein und wohnte in meinem ehemaligen Zimmer. Nach einiger Zeit beanspruchte ein Nazi unsere Wohnung und meine Eltern wurden aus der Wohnung, in der sie 23 Jahre gelebt hatten, herausgeschmissen und mit einigen anderen jüdischen Familien in einem Haus in der Kupelwiesergasse 56 untergebracht, aber nach kurzer Zeit in eine große Wohnung in der Servitengasse übersiedelt, wo jedes Zimmer von einer jüdischen Familie besetzt war.
Mitzi kam immer noch, um meiner Mutter zu helfen. Als der Befehl kam, sich zur Umsiedlung nach Theresienstadt zu melden, warnte Mitzi, die inzwischen geheiratet hatte und jetzt Maria Saidler hieß, nicht nach Theresienstadt zu gehen und bot ihnen an, sie in ihrer Wohnung zu verbergen. Da meine Mutter kränklich war, glaubten meine Eltern, dass das nicht möglich wäre und lehnten ihr Angebot ab. So wurden meine Eltern im Oktober 1942 nach Theresienstadt transportiert und im Oktober 1944 von dort nach Auschwitz verschleppt und im Oktober 1944 ermordet. Mein Vater war 63 Jahre alt, meine Mutter 62.
Nachdem meine Eltern Mitzi´s Angebot nicht annahmen, bot sie dasselbe Frau Sommer an und versteckte sie in ihrer Wohnung bis zum Ende des Krieges. Als die Russen Wien bombardierten, lief Frau Sommer nach Hietzing zu unserer Wohnung, sagte: „Da habe ich gewohnt“ und schmiss den Nazi hinaus (das war nicht so einfach) und wohnte dann dort mit ihrer Tochter, die aus dem Ausland zurückkehrte. 1981 wurde Mitzi (Maria Saidler) vom Yad Vashem in Jerusalem geehrt, weil sie unter Lebensgefahr ein jüdisches Leben rettete. Ich flog mit meiner Tochter zu dieser Zeremonie in Jerusalem, wo ein Baum im Hain der Gerechten gepflanzt wurde.
Hochzeit mit einer Ex-Wienerin
1949 heiratete ich eine Ex-Wienerin (aus der Margarethenstraße), die mit einem Kindertransport nach England kam. Wir haben 2 Söhne und eine Tochter und 6 Enkelkinder. Ich kehrte 1959 zum ersten Mal nach Österreich zurück. Wir besuchten Putzi Prohaska in ihrem Haus in Henndorf am Wallersee. Dann fuhren wir nach Wien, wo wir im Prohaskahaus wohnten. Meine Eltern ließen verschiedene Haushaltsartikel bei Putzi, in der Hoffnung, nach ihrer Rückkehr aus Theresienstadt, wieder einen Haushalt zu haben. Ich fühlte mich in Wien unbehaglich, wann immer ich einem Mann meines Alters begegnete. Ich dachte immer: Ist das der Mann, der meine Eltern ermordete? Ich traf aber auch alte Schulfreunde, die mich herzlich begrüßten.
In den 80er Jahren verbrachte ich mit meiner Frau einen Urlaub in Seefeld. Als wir an einem älteren Mann vorbei gingen, hörten wir ihn murmeln: „Da gibt es schon wieder zu viele Fremde; da sollte man etwas vergasen und spritzen“. Danach entschlossen wir uns, nie wieder einen Urlaub in Österreich zu verbringen. 1993 nahmen wir unsere Kinder nach Wien, um ihnen zu zeigen, wo wir wohnten und studierten. Ich konnte ihnen sogar meine alte Wohnung in der Wattmanngasse zeigen, da Frau Sommers Tochter, Resi, noch dort wohnte. Wir besuchten auch Mitzi, die im folgenden Jahr, 94 Jahre alt, starb.