Auf dem Döblinger Friedhof – wenige Schritte vom Grabmal des Theodor Herzl entfernt – liegt die Grabstätte von Prof. Jerusalem (1854–1923), dem in der Welt bekannten und geschätzten und in Österreich – zu spät – anerkannten Philosophen der Wiener Universität. Im unteren Teil der mit Efeu umrankten Gedenktafel stehen Worte der Erinnerung an Prof. Irene Jerusalem, seine Tochter; ihrem Geburtsdatum folgen nach einem Gedankenstrich die inhaltsschweren Worte: „Frühjahr 1942“. Dies soll heißen: Im Frühjahr 1942 blieben die in ihrer regelmäßigen, klaren Schrift abgefaßten Karten aus Litzmannstadt, mit dem vorschriftsmäßigen Text der KZ-Post aus. Ein Schicksal unter sechs Millionen!
Für mich und viele meiner Mitschülerinnen war sie die Lehrerin schlechthin; sie hat uns gebildet und geformt, sie weckte unsere Liebe zur Literatur und sie lehrte uns, über das Leben und seine Probleme nachzudenken. Voll Ehrfurcht kamen wir ihr als zehnjährige Kinder entgegen, aber ihre Geistigkeit erdrückte uns nicht. Keines wollte in ihren Augen unwissend und oberflächlich erscheinen. Wir versuchten, sie nicht zu enttäuschen und sie – wir fühlten es – nahm uns sehr ernst; sie setzte sich mit unserem Wesen, unseren Gedanken auseinander und lenkte sie in die Bahnen ihres philosophischen Weltbildes.
Erinnerungen von Dr. Herta Bren
Nach meiner Matura, im Sommer 1940 versuchte ich, mit Frau Prof. Jerusalem wieder Verbindung aufzunehmen. Für mich schien alles zu Ende zu sein. Ich durfte meiner Großmutter wegen, die jüdischer Herkunft war, nicht studieren.; ich durfte auch keinen Sozialberuf ergreifen: Weder Krankenschwester noch Kindergärtnerin durfte ich werden, denn „Mischlinge“ sollte man nicht mit Menschen, geschweige denn mit Kindern in Kontakt bringen. So und ähnlich lauteten die Auskünfte der damaligen Studienvertretung, des N. S. Studienwerkes. Was also sollte ich beginnen, um nicht einen von mir gefürchteten Büroberuf ausüben zu müssen?
In meiner Unsicherheit, meiner Empörung, meinem Verlangen, mein Leben sinnvoll zu gestalten, faßte ich den Entschluß, meine alte Lehrerin zu besuchen. Sie mußte ein Jahr vor dem „Umbruch“ ihre Pensionierung beantragt haben; vielleicht hatte sie das Kommende vorausgeahnt. Ich nahm all meinen Mut zusammen; es war am 1. Juli 1940, als ich am Nachmittag an ihrer Wohnungstür, in der Auhofstraße 7a läutete. Sie sah durch das Guckloch und sicher tat sie das – wie wir alle, die dem Regime nicht genehm waren – nicht ohne Herzklopfen. Denn alles, was von „draußen“ kam, konnte Gefahr mit sich bringen. Als sie mich da stehen sah, öffnete sie die Tür weit und rief aus: „Ja Kind, was ist denn geschehen?“ Auf die Idee, daß ich ihretwegen gekommen sein könnte, um mich zu erkundigen, wie es ihr ginge, kam sie gar nicht. Sie nahm es als selbstverständlich hin, daß man um Rat und Hilfe zu ihr kam.
„Tschusi“ – so war ihr Spitzname in der Schule, niemand konnte sagen woher er kam; sie jedoch bekannte sich zu ihm und lachte darüber – forderte mich auf, in einem großen Lehnstuhl Platz zu nehmen und setzte sich mir gegenüber, ganz nahe. Und nun begann ich zu erzählen: von den täglichen Demütigungen in der Schule, die ausschließlich von Seiten der Professorinnen kamen. Tschusi versuchte nicht, mich zu trösten, sie klagte niemanden an. Sie führte mir das – wie sie es sah – für meine Entwicklung Positive vor Augen, denn „Triumph lehrt nicht – nur Schmerz lehrt“, und so wußte sie diese Jahre des Grauens und der Angst als „Lehrjahre“ hinzustellen. Von dieser Stunde an wurde ich noch mehr in meinem Bemühen bestärkt, mich zu meinem Schicksal zu bekennen und es – im Rahmen des Möglichen – zu bewältigen.
Erinnerungen von Dr. Herta Bren